Für den erfolgreichen britischen Geschäftsmann Sir Richard Branson ist seine Dyslexie kein Malus, sondern ein Geschenk, denn „sie hat mir geholfen, die Kunst des Delegierens zu erlernen, meine Fähigkeiten zu fokussieren und mit unglaublichen Menschen zusammenzuarbeiten“. Sein Erfolg spricht für sich – und für die Inklusion neurodivergenter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Studien belegen, dass neurodiverse Teams über eine höhere kollektive Intelligenz verfügen, Herausforderungen besser begegnen, kompetentere Entscheidungen treffen und etwa 30% effektiver arbeiten. Und: Gelingt die Inklusion neurodivergenter Kolleginnen und Kollegen, verbessern sich die Zusammenarbeit und Produktivität von Teams nachweislich.
In der Arbeitswelt angekommen… it works!Konzerne wie SAP, Microsoft oder IBM beschäftigen bereits neurodivergente Mitarbeitende. Mit individuellen Förderprogrammen begleiten sie die neuen Kolleginnen und Kollegen von On-Boarding bis Arbeitsalltag und unterstützen die Teams aktiv.
Wie können mittelständische Unternehmen diese neue Entwicklung – auch mit begrenzten Ressourcen – für sich umsetzen? Darüber haben wir mit Dr. Judith Rommel gesprochen. Vor etwa vier Jahren gründete sie das BZND Zentrum für Neurodiversität e.V., das sich für Menschen mit Neurodiversität einsetzt, um ihr Leben zu verbessern.
Warum haben Sie den BZND e.V. gegründet und was macht das Zentrum für Neurodiversität genau?Unser Expertenteam möchte für das Thema Neurodiversität sensibilisieren. Wir beleuchten Perspektiven aus Wirtschaft und Wissenschaft sowie Sichtweisen von Betroffenengruppen mit dem Ziel, praxisnahe Ansätze zu entwickeln, die die Akzeptanz und Chancengleichheit neurodivergenter Menschen verbessern. Im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen Aufklärung, gesellschaftliche Teilhabe und individuelles Wohlbefinden. Eins unserer Projekte ist beispielsweise die gemeinnützige Onlineplattform Lilevi, die Angebot und Suche nach sinnesfreundlichem Wohnraum erleichtert. Lilevi ist ein Social Innovation Projekt, das auf angewandte Forschung in Kooperation mit einer Hochschule basiert.
Warum sind neurodivergente Mitarbeiter-/innen eine echte Bereicherung für ein Unternehmen? Welche Fähigkeiten macht sie „besonders wertvoll“?Neurodivergente Mitarbeitende bringen wertvolle Stärken in ein Unternehmen ein – von ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn und hoher Empathie bis hin zu kritischem Denken, Mustererkennung und systemischem Verständnis. Je nach Ausprägung der Neurodivergenz sind sie besonders fokussiert, handeln ruhig und überlegt in Stresssituationen oder bringen Risikobereitschaft und Innovationsgeist mit.
Geben Sie ein Beispiel.Neurodivergente Menschen verfügen über Spezialwissen aus vielen unterschiedlichen Bereichen, die helfen, kreative Lösungen zu entwickeln, effizienter zu arbeiten und sich zukunftssicher aufzustellen. Während Autisten in passender Umgebung mit hoher Konzentrationsfähigkeit, Liebe zum Detail und analytischem Denken punkten, bringen Menschen mit ADHS Kreativität und Flexibilität ein. Hochsensible sind besonders emphatisch, Hochbegabte denken gerne schnell und fühlen sich beim Lösen komplex vernetzter Probleme wohl, und Menschen mit Legasthenie zeichnen sich oft durch starkes räumliches Denken aus – eine Vielfalt an Stärken, die Unternehmen resilient macht und die Unternehmenskultur bereichert.
Das heißt, neurodivergente Menschen können den akuten Fachkräftemangel durchaus ausgleichen bzw. abmildern?Ja! Viele neurodivergente Menschen sind hochqualifiziert, aber unterbeschäftigt oder vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen – sei es aufgrund starrer Strukturen oder mangelnder Anpassung an ihre Stärken, weil Unternehmen den damit verbundenen Aufwand scheuen. Studien zeigen, dass nur ein Bruchteil der Menschen im Autismus-Spektrum in festen Arbeitsverträgen steht, und auch Hochbegabte oder Menschen mit ADHS stoßen in traditionellen Arbeitsmodellen oft an Grenzen. Unternehmen, die flexible Strukturen schaffen und individuelle Potenziale fördern, können nicht nur dem Fachkräftemangel entgegenwirken, sondern sich auch Innovationskraft und Wettbewerbsvorteile sichern.
Wie können mittelständische Unternehmen, auch mit begrenzten Ressourcen, die Inklusion neurodivergenter Menschen bewältigen?Mit einfachen, aber wirkungsvollen Maßnahmen: Klare, direkte Kommunikation, flexible Arbeitszeiten, Homeoffice-Möglichkeiten und reizärmere Arbeitsplätze helfen, individuelle Stärken optimal zu nutzen. Das bedeutet zum Beispiel schriftlich festzuhalten, welche Tätigkeiten über die Kernaufgaben hinaus erwartet werden, oder feste Parkplätze bereitzustellen. Neben frühen bzw. späten Arbeitszeiten sind Teilzeittätigkeiten leicht umsetzbare Anpassungen. Homeoffice ermöglicht fokussiertes Arbeiten in einer reizarmen Umgebung, ohne zusätzliche Belastung durch soziale Interaktionen oder unkontrollierte Umweltreize.
Elisa Schwed, Produktionsleiterin in einem mittelständischen Betrieb: “Wir haben eine Mitarbeiterin, die stark auf Parfum reagiert und sehr regelbewusst ist. Sie hat Aufgaben, bei denen sie eher für sich arbeitet. Ihr Arbeitsplatz ist etwas von den anderen entfernt. Zudem darf sie sich ihre Arbeitszeit frei einteilen”.
“Im Mittelstand fehlen oft (noch) spezialisierte Fachkräfte, die sich mit Neurodivergenz befassen. Führungskräfte sind daher auf den offenen Austausch mit den betreffenden Mitarbeitenden angewiesen.”, weiß Anja Friesen aus ihrer 15-jährigen Erfahrung als Personalleiterin in KMUs.
Regelmäßige Check-ins können je nach Neurodivergenz angepasst werden – etwa häufigere Feedbackgespräche für Menschen mit ADHS oder mehr Autonomie für Hochbegabte. Technische Lösungen wie Noise-Cancelling-Kopfhörer können unterstützen. Besonders wichtig ist es, neurodivergente Mitarbeitende aktiv einzubeziehen und nach ihren Bedürfnissen zu fragen – oft haben schon kleinste Anpassungen große Wirkung. Gerade in kleineren Betrieben mit persönlicherem Umgang lassen sich individuelle Lösungen über ein Mentorensystem leichter umsetzen.
“Eine offene Kommunikationskultur, in der neurodivergente Eigenschaften nicht als Defizite, sondern als Facetten der Persönlichkeit betrachtet werden ist Voraussetzung für gelungene Integration.”, so Anja Friesen.
Wie können Sie und das BZND Unternehmen konkret unterstützen?Das BZND e.V. unterstützt Unternehmen dabei, passende Ansprechpartner zu finden und praxisnahe Lösungen für eine inklusivere Arbeitswelt zu entwickeln. Zudem freuen wir uns über strategische Partnerschaften, um gemeinsam nachhaltige Veränderungen zu gestalten – etwa durch unsere Wohnraumplattform, die sinnesfreundliches Wohnen für neurodivergente Menschen erleichtert.
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