Es gibt viele Möglichkeiten, Prozesse durch Digitalisierung zu verbessern. Und die aktuelle Situation zeigt, wie dringlich ein grundsätzliches Umdenken ist – optimalerweise über den gesamten Kreislauf eines Produktes. Automatisierung und digitale Anwendungen bringen flexible Verfügbarkeit, Nachhaltigkeit, Preisstabilität und Individualisierung. Das ist für Hersteller, Abnehmer und Nutzer von Mehrwert.
Fällt eine Maschine in einer Produktionsanlage plötzlich aus, sind meist nicht die Kosten für das Ersatzteil entscheidend, sondern die Ausfallzeit der Anlage. Durch Simulation mit Hilfe digitaler Zwillinge können solche ungeplanten Stopps teilweise vermieden werden. Digitale Zwillinge sind virtuelle Abbilder von Anlagen, der Produktion mit sämtlichen Stationen oder der Performance. Sie ermöglichen die Verbindung von virtueller und physischer Welt. „Mit dem digitalen Zwilling kann man die gesamte Produktion vor Inbetriebnahme und später mit dem Input laufender Messdaten schon einmal durchspielen und Vorhersagen treffen“, sagt Stefan Denker von Dräger in Lübeck.
Vorausschauende Instandhaltung reduziert Kosten
Für die Entwicklung digitaler Zwillinge braucht man entsprechende Software-Systeme auf Rechnern, die wiederum mit den Anlagen verbunden werden. So können sie Daten miteinander verknüpfter Zwillinge einer Anlage erstellen und Sensordaten für verschiedene Fehlerbedingungen durch Simulation erzeugen. Denker: „Wenn man in bestehende Anlagen Daten einfließen lässt, kann man beispielsweise über Messsensoren sehen, ob zum Beispiel Pumpen bei erhöhter Temperatur laufen oder daran Leckagen auftreten. Dabei gibt es eventuell noch keinen Alarm, aber über Predictive Maintenance lässt sich schon prüfen, ob es zum Beispiel eine Störung gibt, die Ausfälle zur Folge haben kann.“ Solche auf Echtzeitdaten basierenden vorbeugenden Instandhaltungen oder Wartungen reduzieren Kosten gegenüber ungeplanten Reparaturen, weil sie nur dann ausgeführt werden, wenn sie wirklich nötig sind. Predictive Maintenance als eine Anwendung der Industrie 4.0 erhöht die Produktivität, verhindert den Leistungseinbruch und sorgt so schließlich auch beim Kunden für mehr Planbarkeit. Weitere Vorteile können vermiedene Unfälle mit eventuell negativen Auswirkungen auf Mensch und Umwelt sein.
Brillen rund um die Uhr
Digitale Zwillinge können Produkte über den gesamten Lebenszyklus vom Design über die Erstellung und Betrieb bis hin zur Wiederverwertung abbilden. Bei Uvex in Fürth beispielsweise laufen Brillendesign und -produktion schon länger komplett Software unterstützt und automatisiert. Auch Werkzeuge und Anlagen werden über CAD konstruiert und stehen somit als digitale Zwillinge zur Verfügung. Dr. Marco Wacker: „Wir haben in den vergangenen zwei Jahren den Shopfloor digitalisiert. So konnten wir schnell sehen, wann und wodurch wir am meisten Zeit verlieren. Das geschah häufig durch Ausschuss, wie z.B. Verschmutzung, Feuchtigkeit oder Materialfehler sowie bei Farb-, Werkstoff- oder Modellwechseln. Wir konnten digital feststellen, wo und wann diese einzelnen Fehler entstehen und so eliminieren.“ Das Resultat: Die Produktion wird effizienter und nachhaltiger, weil weniger Ausschuss entsteht. Zusätzlicher Vorteil für den Kunden ist ein stabiles Preisniveau. Im vergangenen Jahr geriet noch ein anderer Aspekt in den Vordergrund: „Die Vollautomatisierung unseres Kopfbandes hat dazu geführt, dass die seit der Corona-Krise stark nachgefragte Vollsichtbrille Ultrasonic hier in Fürth in drei Schichten plus Sonntagsarbeit produziert werden kann.“ Der Produktionsumfänge können also entsprechend der Nachfrage verändert werden.
Dokumentation von Gasmessungen in 17 Sprachen per Handy
Bei Dräger, dem Lübecker Spezialisten für Medizin- und Sicherheitstechnik, hat schon vor Jahren die Automatisierung in der Herstellung von Prüfröhrchen für tragbare Messtechnik zu einer Vergrößerung der Produktmenge und verbesserter Qualität geführt. Diese Prüfröhrchen, die zum Nachweis von bis zu 500 schädlichen Gasen am Arbeitsplatz eingesetzt werden, wurden früher von Hand hergestellt und befüllt. Der prinzipielle Aufbau der Röhrchen blieb bis heute unverändert. Die meisten sind Skalenröhrchen, und die Länge der Farbumschlags ist ein Maß für die Konzentration des zu messenden Stoffes. Durch die Automatisierung haben sich Qualität, Messgenauigkeit und Selektivität erhöht. Die mobile Datenerfassung über eine App erleichtert dem Anwender außerdem die Dokumentation. Per Handy lassen sich in wenigen Schritten und 17 Sprachen Röhrchen scannen, Messungen durchführen, Daten erfassen und das Messprotokoll versenden. Daten sammeln auf Papier gehört der Vergangenheit an.
Unterschiedliches Komfortempfinden – Individualisierung kein Problem
Der Schuhmaschinenhersteller Desma in Achim ist auf Direktansohlungsanlagen und Automatisierungssysteme spezialisiert. Das Sohlenmaterial Polyurethan wird direkt eingespritzt und verbindet sich mit dem Schaft. „Es verankert sich in der aufgerauten Struktur des Schaftes – unabhängig vom Material - was für einen perfekten Halt sorgt“, erklärt Desma-Geschäftsführer Klaus Freese. Das Sohlenmaterial umschließt den Schaft. Dadurch entsteht eine Vielzahl von Möglichkeiten, das Sohlendesign und die Sohleneigenschaften individuell zu gestalten. In unterschiedlichen Bereichen können mit jeder Materialeinspritzung z. B. verschiedene Härtegrade erreicht werden. Das bietet dem Träger Komfort über einen längeren Zeitraum, gezielte Energieaufnahme und Stabilität. „Für schwere Menschen empfehlen sich härtere Sohlen als für Leichtgewichte. Ganz abgesehen vom Gewicht hat jeder Mensch ein persönliches Komfortempfinden. „Theoretisch können wir bereits Schuhe in Losgröße 1 herstellen“, so Freese. „In der Praxis ist es bislang so, dass eher eine Gruppenindividualisierung erfolgt. So können zum Beispiel für Unternehmen individuell Schuhe mit eigenem Firmenlogo und Corporate Design umgesetzt werden. Je nach Anwendungsgebiet und Belastungen könnte dann jeweils ein Schuhtyp in unterschiedlichen Varianten mit drei Sohlenhärtegraden entstehen.“
Freese ist schon lange im Geschäft. „Als ich angefangen habe, gab es Sicherheitsschuhe entweder in Braun oder Schwarz. Die Schutzfunktion stand an erster Stelle, Tragekomfort und Design spielten kaum eine Rolle“, erzählt Freese. Heute sind Sicherheitsschuhe als solche kaum noch erkennbar, sie sind schick, leicht und bequem. „Die Produktion in Europa ist nur durch eine geeignete Automatisierung möglich und wirtschaftlich sinnvoll. Damit verbessern sich Qualität und die Ökobilanz. Automatisierung reduziert den Einsatz von Ressourcen und Materialien auf ein Minimum, Transportwege verkürzen sich und die konstante Qualität sorgt für robuste, langlebige Produkte.“
Kleines Glossar
Industrie 4.0 – Der Begriff bezeichnet die vierte Stufe der industriellen Revolution: Nach Dampflock und Elektrifizierung haben IT-Systeme und Elektronik die Welt verändert. In der Industrie 4.0 geht es um die digitale Vernetzung aller Bereiche in der Wirtschaft.
Automatisierung bedeutet, dass künstliche Systeme die Prozesssteuerung übernehmen.
Digitalisierung bedeutet, dass analoge Werte in digitale Formen umgewandelt werden.
Digitale Zwillinge sind virtuelle Abbilder von Produkten, der Produktion mit sämtlichen Stationen oder der Performance.
FEM steht für Finite-Elemente-Methode. Mit Hilfe dieser Methode werden kleine Bereiche eines Bauteils oder eines Berechnungsgebietes dazu genutzt, um das physikalische Verhalten des Bauteils abzubilden. So lässt sich ein Körper und dessen Verhalten, z. B. unter Einwirkung von Kräften, Wärme oder Schwingungen, berechenbar machen.
Shopfloor zu Deutsch: Hallenboden/Ort der Wertschöpfung
SFM (Shopfloor Management) bezeichnet Verbesserungsmaßnahmen im administrativen Bereich der Fertigung.
Predictive Maintenance zu Deutsch: vorausschauende Instandhaltung
Digital Thread bezeichnet den digitalen roten Faden, der alle Daten eines Produkts über den gesamten Lebenszyklus zusammenführt und so zur Prozessoptimierung beitragen kann.
Autorin: Kirsten Rein, Fachjournalistin für technische Textilien und Arbeitsschutz (www.kirsten-rein.de)